Annegret Siedel

Barockvioline, Viola d’amore, Viola und Violino piccolo

   
 

Copyright J.S. Bach

Annegret Siedel (Barockvioline), Ute Gremmel-Geuchen (Orgel)
Johann Sebastian Bach
AEOLUS (2021)
Johann Sebastian Bach schrieb zeitlebens eine große Anzahl von Bearbeitungen, Transkriptionen und „Parodien“. Die Barockgeigerin Annegret Siedel und die Organistin Ute Gremmel-Geuchen experimentieren auf diesem Gebiet mit großer Spielfreude, indem sie ein vielfältiges Spektrum von Bach Kompositionen als Bearbeitungen für Violine und Orgel, für Violine solo (BWV 565) oder Orgel solo darbieten.

Sein ganzes Leben hindurch hat Johann Sebastian Bach bearbeitet, transkribiert und parodiert:
In seiner Jugendzeit hat er vielfach Werke fremder Meister für ein Tasteninstrument bearbeitet oder fremde Themen für neue Fugen verwendet. Später hat er vielfach eigene Werke für andere Besetzungen umgeschrieben und in seinem (Leipziger) Vokalwerk spielt die Bearbeitung unter Anwendung eines neuen Textes (die sogenannte Parodietechnik) eine überaus bedeutende Rolle. Diese so vielseitig belegte Offenheit gegenüber der Transkriptionspraxis ermuntert dazu, auch in heutiger Zeit neue Besetzungen zu wagen. Im Zusammenhang mit eigenen Transkriptionen (von denen eine auch auf dieser CD erklingt) hat Gustav Leonhardt einmal sehr treffend formuliert: „Ich denke, Bach hätte mir vergeben, dass ich mich an die Bearbeitungen gemacht habe; ob er mir verziehen hätte, wie ich sie gemacht habe, ist natürlich fraglich.“

Unter diesem Vorbehalt haben Annegret Siedel und Ute Gremmel-Geuchen ein Programm zusammengestellt, das ausschließlich Transkriptionen Bachscher Werke enthält, Bearbeitungen von ihm selbst und aus neuerer Zeit. Die Beschränkung der Besetzung auf Violine und Orgel (jeweils solistisch als auch im Zusammenspiel) hat historische Vorbilder:
In der norddeutschen Orgeltradition des 17. Jahrhunderts, als deren letzten Vertreter ja Bach selbst betrachtet werden kann, gab es eine lebendige Tradition des Zusammenspiels von der Orgelempore herab mit Melodieinstrumenten, und zwar vorrangig mit der Violine. In Hamburg spielte der berühmte Ratsgeiger Johann Schop gemeinsam mit verschiedenen Hamburger Organisten wie Scheidemann und Weckmann. Auch von Buxtehude und Bruhns ist ein solches Musizieren bekannt.
Darüber hinaus sind Violine und Orgel die Instrumente, die Bach selbst meisterlich beherrschte.

TOCCATA ET FUGA D-MOLL (BWV 565), das vielleicht bekannteste Werk des Thomaskantors, dessen Eröffnungsgeste unzählige Male in Filmmusiken verarbeitet wurde, ist vielleicht gar nicht von Bach komponiert worden. Zum einen ist die Quellenlage schwach, denn es gibt nur eine einzige Quelle aus dem 18. Jahrhundert von der Hand des Berliner Organisten und Bach-Verehrers Johannes Ringk (1717-1778), geschrieben um 1750. Zum anderen weist das Werk Stilmerkmale auf, die keiner der Entwicklungsphasen Bachscher Kompositionskunst zugeordnet werden können.
So sind beispielsweise die extrem häufige Verwendung des verminderten Septakkordes als eine Art Klangeffekt völlig untypisch für Bach, ebenso wie die zahlreichen einstimmigen Passagen in der Fuge. Sollte das Werk von ihm stammen , so müsste es seinen Jugendwerken zugeordnet werden. Aber auch hier zeigt der Vergleich mit den authentischen frühen Werken, dass diese bereits eine deutlich komplexere Harmonik und Stimmführung aufweisen. Der englische Bachforscher Peter Williams wies als erster auf diese Stilproblematik hin und stellte folgende These als Erklärungsversuch auf: Vielleicht wurde BWV 565 gar nicht als Orgelwerk konzipiert, sondern ursprünglich als Solostück für Violine. Tatsächlich entsprechen die zahlreichen einstimmigen Figurationen eher der Struktur von Solowerken für ein Streichinstrument, und eine Autorschaft Bachs für diese Urfassung wäre dann eher denkbar. Nach dieser Theorie könnte es sich bei Ringks Kopie um eine Bearbeitung von fremder Hand für Orgel handeln. Auf dieser SACD erklingt eine Version für Violine solo von Annegret Siedel, die demnach entweder als Rekonstruktion oder als Transkription verstanden werden kann.

Unter den ganz wenigen Orgelwerken Bachs aus der Vorleipziger Zeit, welche sich in seiner Eigen-schrift erhalten haben, nimmt das Autograph des KONZERTS D-MOLL (BWV 596) eine besondere Stellung ein. Zum einen ist es die einzige der vielen vor 1715 entstandenen Bearbeitungen von fremden Sonaten, Fugen und vor allem Konzerten, die im Autograph erhalten ist. Zum anderen hat Bach hier einen besonderen Höhepunkt aus Antonio Vivaldis epochemachender Konzertsammlung L’Estro Armonico bearbeitet. Die Handschrift lässt sich um 1714 datieren und war vielleicht für die Wiedereinweihung von Bachs Orgel in der Weimarer Schlosskapelle Ende Mai jenes Jahres gedacht. Vivaldis Konzert ist ein Werk von mitreißendem Schwung und höchster kompositorischer Meisterschaft. So ist beispielsweise die Fuge am Ende des 1. Satzes im vierfachen Kontrapunkt verfasst. Bachs ältester Sohn Friedemann, in dessen Besitz das Autograph später gelangte, schrieb einige Orgelfugen, die eindeutig Bezug nehmen auf Vivaldis Vorbild. Die Ecksätze werden in der Bachschen Fassung gespielt; nur die expressive Solostimme des langsamen Mittelsatzes wird in dieser Aufnahme wie bei Vivaldi wieder an die Solovioline zurückgegeben.

Vivaldi’s L’Estro Armonico erschien 1711 in Amsterdam verlegt von Estienne Roger. Einige Jahre später erschien beim gleichen Verleger ein Sammelband mit Konzerten verschiedener italienischer Meister, so auch das bekannte Oboenkonzert von Alessandro Marcello (1673-1747). Wie sein weitaus bekannterer Bruder Benedetto bezeichnete Alessandro sich als ein „nobile dilettante della musica“, damit hinweisend auf seine Herkunft aus einer reichen Venezianischen Patrizierfamilie.
Die Brüder betrachteten sich selber nachdrücklich nicht als „Brotmusiker“ wie (z.B.) Vivaldi dies war, sondern komponierten nur aus reiner Liebhaberei. Bei Alessandro war die Musik zudem nur eine von verschiedenen Liebhabereien wie die Malerei, die Philosophie, die Mathematik und besonders die Dichtkunst. Obwohl als Komponist seinem um dreizehn Jahre jüngeren, brillanteren Bruder Benedetto unterlegen, ist Alessandro mit seinem OBOENKONZERT D-MOLL ein Wurf gelungen.
Auch Bach hat dies erkannt und verfasste, gleichfalls in der Weimarer Spätzeit, eine Bearbeitung für Cembalo oder Orgel ohne Pedal (BWV 974). Er hat damit entscheidend zum Ruhm des Werkes beigetragen, nicht zuletzt auch durch seine unnachahmliche Auszierung des Mittelsatzes. Dank Bachs Fassung ist der Satz inzwischen zum Pantheon der klassischen „Evergreens“ vorgedrungen. In dieser Aufnahme übernimmt die Violine die Solostimme.

In seiner Weimarer Zeit komponierte Bach auch eine Reihe von großangelegten Choralbearbeitungen für Orgel, welche er viel später, in Leipzig nach 1740, weiter verbesserte und zu einer Sammlung vereinte. Hierin findet sich auch eine Gruppe von drei kontrastrierend angelegten Bearbeitungen des Adventschorals NUN KOMM, DER HEIDEN HEILAND. In der vorliegenden Aufnahme erklingen die zwei ersten in bearbeiteter Form. Eine besondere Berühmtheit hat das Eröffnungsstück der Trias (BWV 659) erlangt: Auf der Basis eines auf die Triosonaten Arcangelo Corellis zurückgehenden „Laufbasses" im Pedal und zwei oft im freien Kanon geführten Mittelstimmen erhebt sich im Diskant (welcher hier der Geige zugeteilt ist) eine reich ausgezierte Fassung des Chorals. Mit größter Expressivität lässt uns dieses Werk das Geheimnis der Menschwerdung Christi erspüren.
Kaum weniger faszinierend und originell ist die seltener gespielte Choralbearbeitung BWV 660: Über zwei tiefere, konzertierende Stimmen, die immer wieder das markante Eröffnungsmotiv des Chorals anstimmen, erklingt in weiten Abständen eine leicht verzierte Version der vier Choralphrasen. Auch hier wird die Diskantstimme von der Violine übernommen. Die Mittelstimme wird eine Oktave höher gespielt. Die Sonaten und Partiten für Violine solo vereinte Bach 1720, also in seiner Cöthener Zeit, zu einer Sammlung. Aber wahrscheinlich entstand der reiche Inhalt über viele Jahre hinweg, einschließlich der Jahre 1714-1717, als Bach neben seiner Hauptanstellung als Hoforganist auch als Geiger (Konzertmeister) in der Weimarer Hofkapelle tätig war.

Die FUGE der ERSTEN SONATE IN G-MOLL (BWV 1001,2) entstammt wahrscheinlich dieser Weimarer Zeit. Bach hat sie zu einem späteren Zeitpunkt in genialer Weise für Orgel mit Pedal bearbeitet (BWV 539,2). Damit hat er sein Orgelwerk um ein einmaliges Werk ergänzt, das eine ganz andere Charakteristik aufweist als seine Originalfugen für dieses Instrument. Es blieb als Einzelstück in verschiedenen zuverlässigen Handschriften aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erhalten, wurde jedoch um 1800 mit einem kleinen Manualiter-Praeludium (BWV 539,1) verknüpft. Dieses Praeludium passt aus verschiedenen Gründen nicht zur Fuge: Das kurze Praeludium wirkt disproportioniert gegenüber der Fuge. Als Manualiter-Werk scheint es eher ein Unterrichtsstück für Cembalo, denn ein Orgelwerk zu sein. Aus diesem Grunde wird in dieser Aufnahme das gewichtige Praeludium aus der Violinsonate, BWV 1001,1 der Orgelfuge vorangestellt. Es erklingt in der Cembalotranskription von Gustav Leonhardt, die sich sehr wohl an die Orgel adaptieren lässt.
Die VIERTE SONATE FÜR ORGEL in e-Moll (BWV 528) hat eine komplizierte Vorgeschichte, die sich aber annähernd rekonstruieren lässt. Sicherlich falsch ist die immer wieder aufgestellte Behauptung, der erste Satz sei eine Bearbeitung jener Sinfonia, welche die zweite Hälfte der Kantate BWV 76 eröffnet. Die autographe Partitur dieser kurz nach Bachs Ankunft 1723 in Leipzig geschriebenen Kantate zeigt Spuren von großer Eile, und die Einfügung eines Triosatzes für Oboe d’amore, Viola da Gamba und Continuo unter dem Titel „Sinfonia“ stellt wohl nur einen Notgriff dar. Der Satz wurde einer älteren, wohl noch in Weimar um 1714 entstandenen Triosonate für Oboe, Gambe und Continuo entnommen, deren weitere Sätze sich auch in BWV 528 wiederfinden. Die um 1730 entstandene Orgeltriosonate greift also insgesamt auf jene Weimarer Komposition zurück. In diesem Sinne ist die vorliegende Aufnahme mit Violine und Orgel nur bedingt als Bearbeitung einzustufen, denn es stellt die heterogene Besetzung des Originals mit einem Streich- (jetzt die Violine) und einem Blasinstrument (hier die rechte Hand des Organisten) wieder her. Es ist wohl die älteste Sonate, die wir von Bach kennen, und es ist zugleich eine der originellsten Sonaten des Meisters. Der erste (schnelle) Satz wird eingeleitet von einigen Adagiotakten, in denen jede Stimme ein Motiv vorstellt, das bereits auf das Thema des zweiten, langsamen Satzes hinweist. Jener zweite Satz, ein Duett mit Continuobegleitung, ist von einem hauptsächlich aus Quarten zusammengesetzten Thema (einschließlich einer „neapolitanisch“ vertieften zweiten Stufe am Ende) und einer sequenzierenden Weiterführung geprägt.

Eine weitere Choralbearbeitung, die dem Bachschen Vokalwerk entlehnt wurde, ist der Finalsatz von Kantate 22, ERTÖT UNS DURCH EIN GÜTE. Es handelt sich um jene Kantate, welche (zusammen mit der zuerst aufgeführten Kantate 23) am 7. Februar 1723 als Bachs Probestück in der Leipziger Thomaskirche musiziert wurde. Mit diesem munteren, ganz unbeschwerten Stück hatte Bach seine Bewerbung für das Thomaskantorat abgeschlossen, und es hat ohne Zweifel die positive Entscheidung zugunsten seiner Nominierung wesentlich beeinflusst. Am Ende seines Lebens beschäftigte Bach sich mit Bearbeitungen eigener Kantatensätze für Orgel solo, die 1748 gedruckt und nach ihrem Herausgeber Schübler benannt wurden. Darin findet sich auch eine Bearbeitung eines Satzes aus der Choralkantate BWV 137, „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren“. Der zweite Satz daraus, „Lobe den Herren, der alles so herrlich regieret“, für Violine, Altstimme (Choral) und Basso continuo findet sich als letzter der Schübler-Choräle unter dem neuen Titel des Adventschorals KOMMST DU NUN, JESU, VOM HIMMEL HERUNTER (BWV 650). Die virtuose, konzertierende Oberstimme, wird in der hier vorliegenden Transkription wieder von der Violine übernommen, während der Continuopart und der Choral der Gesangsstimme (mit Vox humana) auf der Orgel erklingen.
Es finden sich in Bachs geistlicher Vokalmusik eine ganze Reihe von Choralbearbeitungen, die sich ebenso wie die „Schübler-Choräle“ als Orgelfassung eignen. Eine davon ist der Satz „Gute Nacht, o Wesen“ aus der Leipziger Motette JESU, MEINE FREUDE (BWV 227). Es ist ein Quartettsatz, ähnlich wie „Schübler“ Nr. 3, „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ (BWV 647). Dies hat Ute Gremmel-Geuchen zum Anlass genommen, auch weitere Sätze dieser Choralmotette auf der Orgel zu spielen. In Anlehnung an eine Transkription von Alfred Bertholet (« Suite pour orgue d’après le motet BWV 227 ») bilden Auszüge aus der Motette eine Art Choralpartita für Orgel, wobei die ergreifende Choralbearbeitung „Gute Nacht, o Wesen” wie bereits in der Motette den expressiven Höhepunkt bildet. In der Orgelfassung übernehmen die Hände die drei freien Stimmen, während im Pedal in der oktavierenden 4‘-Lage die Choralmelodie erklingt. Daneben enthält die „Partita“ die vier untereinander wunderbar varierenden Choralsätze „Jesu, meine Freude”, „Unter deinen Schirmen”, „Weg mit allen Schätzen!”, und „Weicht, ihr Trauergeister” sowie die zwei freigestalteten Trios „Denn das Gesetz” und „So aber Christus in euch ist”, welche beide in fließenden Dreier-Metren verlaufen und hier selbstverständlich auf zwei Manualen und Pedal dargestellt werden.

Pieter Dirksen, 2020